10. November 8.00 Uhr: Reaktionen sowjetischer 
Diplomaten in Berlin auf die Öffnung der Mauer

Noch vor 8.00 Uhr [am 10. November] hatte der Leiter der DDR-Abteilung des sowjetischen Außenministeriums, Wassilij Swirin, Igor Maximytschew, den Ersten Gesandten in der Botschaft Unter den Linden angerufen und diesen gefragt: "Was ist bei euch eigentlich los? Alle Presseagenturen der Welt sind wie von Sinnen. Sie behaupten, die Mauer sei weg!"

Maximytschew erstattete einen Bericht über die Ereignisse der Nacht und sah sich dann mit der Frage konfrontiert: "War das denn alles mit uns abgestimmt?"

Maximytschew antwortete vorsichtig: "Anscheinend ja", fügte aber hinzu, daß diese Frage in Moskau besser zu überprüfen sei.

Diese Nachforschung habe zu einem negativen Ergebnis geführt, berichtet der Diplomat weiter. Kotschemassow, der in der Zwischenzeit seinen Dienst aufgenommen hatte, sei deshalb kurze Zeit später vom stellvertretenden Außenminister Aboimow beauftragt worden, "Erläuterungen von den deutschen Genossen einzuziehen", wer denn nun eigentlich der SED-Führung erlaubt habe, die Grenze zu öffnen.

Tatsächlich hatten "die deutschen Genossen" am 7. November im Politbüro beschlossen, daß Außenminister Fischer neben der CSSR vor allem den sowjetischen Botschafter über die Absicht informieren sollte, daß man eine Durchführungsbestimmung zur ständigen Ausreise sofort in Kraft zu setzen beabsichtigte.

Das hatte Fischer am Mittag des 7. November getan und Kotschemassow über die Drohungen der CSSR in Kenntnis gesetzt, die Grenze zu schließen, wenn die DDR ihr Flüchtlingsproblem nicht mit eigenen Mitteln löse. "Da eine solche Sperre die "Suppe zum Überlaufen brächte", notierte Maximytschew aus dem Bericht Kotchemassows über dieses Treffen, habe sich das Politbüro schnell etwas einfallen lassen. Das vom DDR-Außenminister vorgestellte Projekt stand Maximytschews Aufzeichnungen zufolge in einem wesentlichen Punkt in Kontrast zu der am gleichen Nachmittag im MfS ausgearbeiteten und mit Fischers Stellvertreter Ott abgestimmten Regelung, die die Möglichkeit ständiger Ausreisen über alle Grenzübergänge der DDR zur Bundesrepublik einschließlich West-Berlin vorsah.

Denn gegenüber dem sowjetischen Botschafter, das berichtete Kotschemassow zumindest den Mitarbeitern der Botschaft über sein Gespräch, hatte Fischer lediglich von der Einrichtung eines Sondergrenzüberganges für Ausreisewillige im Süden der DDR gesprochen, und nur hierfür die Zustimmung der sowjetischen Führung bis spätestens zum Morgen des 9. November erbeten. Die Möglichkeit von Privatreisen hatte Fischer überhaupt nicht erwähnt. Dem begrenzten Charakter entsprechend tauften die Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft die Vorstellungen Fischers als "Projekt Loch-in-der-Grenze".

Sofort nach seiner Rückkehr in die Botschaft setzte Kotschemassow den sowjetischen Außenminister Schewardnadse telefonisch über die Absichten der SED-Führung in Kenntnis und bat um eine Weisung. "Der Minister reagierte folgendermaßen," berichtet Maximytschew: "Wenn die deutschen Freunde eine solche Lösung für möglich halten, werden wir wahrscheinlich keine Einwände anmelden". Auf alle Fälle beauftrage er jedoch die zuständigen Abteilungen des Ministeriums mit der Prüfung der Angelegenheit. Auch die Botschaft müsse der Sache auf den Grund geben. Die endgültige Antwort werde wunschgemäß bis spätestens übermorgen, das heißt am 9. November, an Fischer übergeben.

Am 8. November kamen die Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft zusammen, um die Idee von Krenz und Fischer zu beraten. Die laut Maximytschew vorherrschende Meinung war, "wir seien überhaupt nicht berechtigt, einem souveränen Staat vorzuschreiben, was er zu tun oder zu lassen hat, besonders während einer selbstverschuldeten Krise.

Einer der Botschaftsräte wies darauf hin, diese vorherige Konsultation mit uns zeuge lediglich von der Feigheit von Krenz, der sich durchaus im Klaren sei, daß die geplante Maßnahme praktisch auf die Grenzöffnung hinauslaufe, was unabsehbare Folgen haben würde. Daher sein Wunsch, die Verantwortung mit uns zu teilen."

Eine andere Möglichkeit, als zuzustimmen, wurde dennoch nicht gesehen; offensichtlich scheuten die Diplomaten die Verantwortung, die die Sowjetunion im Falle einer Ablehnung für die dann entstehende Lage zwangsläufig hätte übernehmen müssen.

Kotschemassows Anfrage erreichte Moskau zu einer für die Bearbeitung komplizierter politischer Probleme denkbar ungünstigen Zeit: Der 7. und 8. November 1989 waren Feiertage, an denen die sowjetische Nomenklatura den 72. Jahrestag der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" beging.

Valentin Koptelzew, damals Sektorleiter für die DDR in der von Falin geleiteten Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, berichtet, daß die ausgedehnten, bereits am Wochenende zuvor begonnenen und damit insgesamt fünf Tage währenden Feierlichkeiten in der Sowjetunion ein "absolutes Blackout, auch für die Führung" bedeuteten.

Nach seiner Erinnerung war in der Anfrage aus Berlin nicht ganz klar, wo die Grenze passierbar gemacht werden sollte, ob nur zwischen der DDR und der Bundesrepublik oder auch zwischen der DDR und West-Berlin. "Da die Obrigkeit - Gorbatschow, Schewardnadse und auch unsere Bosse im ZK - schon irgendwo unerreichbar waren und feierten, ging das wie ein Fußball zwischen dem Apparat des ZK und dem Außenministerium auf der Ebene der Stellvertreter hin und her. Keiner wollte seinem Chef irgendeine Entscheidung vorlegen, um ihn nicht mit einer so unangenehmen Anfrage der DDR-Freunde zu stören. [...]

Am Vormittag des 9. November, so Maximytschew, läuteten die Telefone in der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin pausenlos; die Mitarbeiter von Krenz wollten die sowjetische Reaktion erkunden und drängten auf eine Antwort. Kotschemassow versuchte vergeblich, Außenminister Schewardnadse oder Georgij Schachnasarow, Gorbatschows Chefberater für die sozialistischen Länder, zu erreichen; beide nahmen vermutlich an der Donnerstag vormittags routinemäßig stattfindenden Sitzung des Politbüros der KPdSU teil oder wollten oder durften aus anderen Gründen nicht gestört werden.

In dieser vertrackten Situation bereitete Valentin Koptelzew im Apparat des Zentralkomitees den denkbar kürzesten Entwurf für eine Antwort des Außenministeriums vor. "Man sollte einfach sagen, das liegt im souveränen Bereich der DDR, über das Regime ihrer Grenze zu entscheiden."

Koptelzew erinnert sich an die Reaktion auf seinen salomonischen Lösungsvorschlag: "Und da haben sich alle Höheren mächtig gefreut!"

Gegen Mittag schließlich, so Maximytschew, entschloß sich der stellvertretende Außenminister Aboimow, "Kotschemassow das grüne Licht für eine positive Antwort an Krenz zu geben", womit er eigentlich seine Kompetenzen überschritt.

Bei der unverzüglichen Benachrichtigung der SED-Spitze gingen die sowjetischen Diplomaten davon aus, daß damit die ursprüngliche "Loch-Variante" von Fischer abgesegnet worden war.

Als während der Pressekonferenz Schabowskis, die Maximytschew am Abend in der Botschaft verfolgte, auch das Stichwort West-Berlin fiel, war er dementsprechend zutiefst irritiert, daß "Krenz und Genossen die mit uns erzielte Absprache so verdreht" und die sowjetische Botschaft über ihre wahre Absicht getäuscht hatten.

Doch die Diplomaten wurden nicht bei der SED-Spitze vorstellig, um eine Erklärung für diesen Vorgang einzuholen. Die Unantastbarkeit des Vier-Mächte-Status von Berlin schien so offenkundig zum Eckstein der sowjetischen Außenpolitik geworden zu sein, daß es den Mitarbeitern der Botschaft nicht in den Kopf wollte, "daß die DDR-Oberen, die jede auch noch so nichtige Gelegenheit ergriffen, Moskau zu konsultieren [...], vergessen haben [sollten], einen Schritt anzukündigen, der diesen Status direkt berührte."

Ihnen fehlte die Vorstellungskraft, daß die SED-Spitze die Erweiterung der Reiseregelung völlig eigenständig, ohne direkte Rückversicherung in Moskau beschlossen haben könnte.

Deshalb nahmen sie zunächst an, "daß die Ausweitung des ursprünglichen Projektes mit Gorbatschow oder Schewardnadse, was auf das Gleiche hinauslief, in letzter Minute abgesprochen worden war und unsere Chefs unter Zeitdruck einfach Ja gesagt hatten. Daß keine weitere Abstimmung erfolgt sein könnte", so Igor Maximytschew, "war für mich unvorstellbar."

"Erbittert und niedergeschlagen" verfolgte Maximytschew den weiteren Gang der Ereignisse zunächst im Fernsehen. Es dauerte jedoch nicht lange, und die sowjetische Botschaft, nur einen Steinwurf vom Brandenburger Tor entfernt, stand selbst inmitten des Geschehens. [...]
 
 

Auszüge aus:
Hans-Hermann Hertle:
Der Fall der Mauer
Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates
Westdeutscher Verlag,
Wiesbaden 1996
Überleitende Sätze und Anmerkungen sind kursiv geschrieben.


Nov. 10th, 8 am: Reactions of Soviet diplomats

After the fall of the Wall there was complete confusion among Soviet diplomats in East Berlin. Nobody knew exactly if this had been confirmed with the Soviet government. After some phone calls the diplomats found out, that the East German government had only confirmed the opening of the border to West Germany but not the opening of the Berlin Wall, which touched the special (four power) political status of Berlin. The Soviet side was upset about this.
 
 

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