Exkurs: Die Haltung der Sowjetunion zu innenpolitischen 
Prozessen in den Staaten des Warschauer Paktes 1989

Offenbar schon einige Monate vor dem 9. November gab es Befehle an die Westgruppe der Roten Armee, sich nicht in innenpolitische Angelegenheiten der DDR einzumischen.

Alexander Jakowlew, seit März 1986 Sekretär des ZK der KPdSU für internationale Beziehungen und seit 1987 Mitglied des Politbüros, hat ebenso wie Mitarbeiter der Abteilung für Internationale Fragen des ZK der KPdSU im nachhinein berichtet, daß die sowjetischen Militärs in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 den Befehl erhalten hätten, sich nicht in innenpolitische Angelegenheiten der DDR einzumischen. [...]

Jakowlew sprach in einem Interview mit der französischen Journalistin Lilly Marcon von einem Befehl Gorbatschows an die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, "ihre Kasernen nicht zu verlassen, was auch immer geschehen möge". Juri Bassistow, Protokollchef und Dolmetscher im Wünsdorfer Hauptquartier, bestätigt diesen Sachverhalt. Falin zufolge erging der besagte Befehl an die Westgruppe Ende August. Bei einem Besuch in West-Berlin hatte Falin bereits am 30.9.1989 eine entsprechende Information an den Regierenden Bürgermeister Walter Momper weitergeleitet. Der damalige LDPD-Vorsitzende Gerlach war im September 1989 vorn sowjetischen Botschafter Kotschemassow darüber unterrichtet worden, daß sowjetische Truppen in der DDR nicht eingreifen würden. Unabhängig davon, ob ein solcher Befehl tatsächlich existierte, ergab sich der Verzicht der Sowjetunion auf eine militärische Intervention in ihren sozialistischen Bruderländern aus der Logik der politischen Vorgaben Gorbatschows seit dem XXVII. Parteitag der KPdSU im Jahre 1986, in denen die Breschnew-Doktrin mit zunehmender Eindeutigkeit verworfen und durch eine "Frank-Sinatra-Doktrin" ("l did it my way") ersetzt wurde.

"Wichtigste Rahmenbedingung der politischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten muß die absolute Unabhängigkeit dieser Staaten sein," hatte Gorbatschow in seinem 1987 erschienenen Buch "Perestroika" ausgeführt und proklamiert: "Die Unabhängigkeit jeder Partei, ihr souveränes Recht, über die Probleme des betreffenden Landes zu entscheiden, und ihre Verantwortung gegenüber der von ihr vertretenen Nation sind Prinzipien, die aber jede Diskussion erhaben sind." Bei seiner Absage an die Breschnew-Doktrin ging Gorbatschow davon aus, daß das sozialistische System in den Bruderländern fest etabliert sei, ihre Wirtschaftskraft stetig wachse und alle sozialistischen Länder "in allen Lebensbereichen eine beträchtliche eigene Leistungsfähigkeit erworben" hätten.

Im Juli 1988 nutzte Gorbatschow eine Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister des Warschauer Paktes in Moskau, um nicht nur seinem eigenen Generalstab, sondern allen Verteidigungsministern des Ostblocks, darunter auch DDR-Verteidigungsminister Keßler, mit der ganzen Autorität des Generalsekretärs der KPdSU begreiflich zu machen, daß die Zeit militärischer Interventionen in Bruderländer abgelaufen war. "Jede Partei ist für ihre Angelegenheiten selbst verantwortlich und erfüllt ihre Aufgaben selbständig. Es dürfen keine Versuche geduldet werden, einander nicht zu achten oder sich in die inneren Angelegenheiten des anderen einzumischen", schärfte er den Militärs ein.

Selbst wenn Krenz eine entsprechende Befehlslage der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte nicht ausdrücklich bekanntgegeben worden sein mag, konnte, ja mußte er davon ausgehen, daß ein bewaffnetes Eingreifen der Sowjetarmee in der DDR im Herbst 1989 schon allein deshalb höchst unwahrscheinlich war, weil es die gesamten Entspannungs- und Abrüstungsbemühungen Gorbatschows und Schewardnadses weltweit mit einem Schlag zunichte gemacht und die sowjetische Außenpolitik in ein Fiasko mit unabsehbaren innenpolitischen Folgen geführt hätte. [...] Hertle, Seite 263

Excursus: The Soviet Union and internal affairs of Warshaw Pact states

At a conference of Warshaw Pact defense ministers in Juli 1988 Gorbachev stated, that from now on „every state should be responsible for his own affairs. Attempts to mix into internal affairs of other states may not be tolerated nay more.“