11. November, 9 Uhr: Beratungen des 
Ministeriums für Nationale Verteidigung

Zur gleichen Zeit [11. November, 9 Uhr] wie im MfS hatte sich das Parteiaktiv des Ministeriums für Nationale Verteidigung im Konferenzsaal des Tagungszentrums in Strausberg versammelt. [...]

Während der knapp dreiviertelstündigen Diskussion wurden Keßler und Streletz im Präsidium fortlaufend Zettel zugeschoben. Beide verließen mehrfach den Raum, [...]  beide wurden am Sonderapparat des Tagungszentrums über die Lageentwicklung am Brandenburger Tor informiert.

Keßler blieb schließlich der Versammlung gänzlich fern. Unter Hinweis auf "einen angeblich bevorstehenden "Sturm auf das Brandenburger Tor" wurde die Tagung schließlich abrupt abgebrochen: "Der Sozialismus ist in Gefahr", hieß es. "Jetzt haben wir keine Zeit mehr weiter zu diskutieren. Jeder an seinen Platz!"

Armeegeneral Heinz Keßler stand vor dem Zusammenbruch seines Lebenswerkes. "Wir alle sind wohl der härtesten Zerreißprobe in der Geschichte unserer Arbeiter- und Bauern-Macht ausgesetzt. Für mich kann ich sagen, daß dies wohl einer der schwierigsten und schmerzvollsten Abschnitte in meinem jahrzehntelangen Wirken als Funktionär der Partei der Arbeiterklasse ist," hatte er eigentlich in seinem verhinderten Beitrag sagen wollen.

Vierzig Jahre Sozialismus drohten auch ihm unter den Füßen wegzurutschen, wie es Horst Sindermann zwei Tage später formulierte. Doch anders als Stasi-Chef Mielke zeigte Keßler weder als Politbüro-Mitglied noch als Minister Resignationserscheinungen. In einer Situation, hieß es in seinem Manuskript, in der West-Berliner und BRD-Politiker eine Volksbewegung zur Überwindung der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten wollten und dazu "eine beispiellose Massenpsychose" schürten, gelte es, "jeden Befehl der Arbeiter- und Bauern-Macht ehrenvoll zu erfüllen, vor allem in dem Bewußtsein, damit die Existenz unseres Staates und den Frieden in Europa zu erhalten. Wir Kommunisten wollen alles tun, damit es in diesen Positionen keine Schwankungen gibt."

In der Armee, so wollte er das Parteiaktiv einstimmen, sei die erforderliche Gefechtsbereitschaft so zu sichern, "daß eine Überraschung von außen ausgeschlossen wird."

Wenn er schon seine Rede nicht halten konnte, so war Keßler doch offenbar zum Handeln bereit.

Um 10.00 Uhr oder 10.15 Uhr nahm der Chef der Landstreitkräfte einen Anruf seines Ministers entgegen, der eine Möglichkeit suchte, die Mauer am Brandenburger Tor zu räumen.

"Bist du bereit, mit zwei Regimentern nach Berlin zu marschieren?", habe sich Keßler versichert. - "Ist das eine Frage oder ein Befehl?", fragte Stechbarth zurück. "Als ich gestern an der Mauer vorbeikam, lief doch alles friedlich ab. Habt ihr euch die Konsequenzen überlegt?" - Keßler habe eingewandt: "Man hat die Mauer besetzt!"

Unter Hinweis auf die unabsehbaren Folgen einer Truppenbewegung durch Berlin, so Stechbarth, habe er Keßler gebeten zu überlegen, ob es keine anderen Mittel gebe, die Besetzung der Mauer zu beenden. Keßler habe geschwankt und mitgeteilt, er bekomme Bescheid.

Im Kommando der Landstreitkräfte beriet Stechbarth das Ansinnen Keßlers mit seinem Stabschef, Generalleutnant Skerra. Zusammen seien sie zu der Einschätzung gelangt, so Skerra, daß die vorgesehenen Truppen auf diese Aufgabe nicht vorbereitet, für den Einsatz zu schwach und deshalb nicht einsetzbar waren.

Wie sollten sie im übrigen die beiden außerhalb von Berlin - im Süden in Stahnsdorf und im Norden in Oranienburg - stationierten Regimenter in die Stadtmitte führen?

Am 4. November war das problemlos möglich gewesen, weil die Hundertschaften der 1. MSD vor Demonstrationsbeginn nach Berlin gefahren worden waren. Am 11. November hingegen, an dem die Straßen überfüllt waren und ein unbeschreibliches Verkehrschaos herrschte, zwei Regimenter von Süden und Norden in Richtung Stadtmitte in Marsch zu setzen, ließ schon bei der Anfahrt Auseinandersetzungen befürchten. Militärhandlungen, so ihr nüchternes Resümee, machten in dieser Lage keinen Sinn.

Im Ministerium für Nationale Verteidigung hatte Fritz Streletz die Kollegiums-Mitglieder sowie die Chefs und Leiter der wichtigsten Abteilungen - einen Kreis von dreißig bis vierzig Personen - nach dem Abbruch der Parteiaktivversammlung gebeten, im Saal zu verbleiben. Der Ernst der Situation veranlaßte ihn, die Führungskader der NVA über die drohende Eskalation am Brandenburger Tor zu informieren und mitzuteilen, daß für die 1. MSD und das LStR-40 seit dem Vortag die erhöhte Gefechtsbereitschaft mit Einschränkungen ausgelöst worden sei.

Die Gemüter waren erregt, die Reaktionen unterschiedlich: "Sie reichten von betretenem Schweigen bis zu spontanen Unmutsäußerungen unschöner Art, wie "Schwachsinn!" - "Theater!" - "Blödsinn!" Obwohl der Unmut nicht in direkte Aufforderungen umschlug, die Aktion abzubrechen, registrierte Streletz, daß die "Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit dieser Maßnahme" in Frage gestellt wurde.

"Was sollen die in Berlin? - Wie sollen die da ´reinkommen? - Die Straßen sind voll; die paar Mann zertreten sie dort!", waren einige der Einwände, die ihm entgegenschlugen und über die er auch Minister Keßler informierte. Die Spitze des Ministeriums war gespalten; die Mehrheit trug eine Militäraktion nicht mit. [...] Hertle, Seite 287 ff.
 

Auszüge aus:
Hans-Hermann Hertle:
Der Fall der Mauer
Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates
Westdeutscher Verlag,
Wiesbaden 1996
Überleitende Sätze und Anmerkungen sind kursiv geschrieben.

Nov. 11th, 9 am: Consulations at the Ministry of National Defense

The Minister of National Defense, Keßler on Nov. 11th, 9 am: „The socialism is in danger. There is no more time to talk, everybody has to go to his place.“

At 10 pm: „Are you ready to march into Berlin with two regiments?“ he asked a high-ranking officer of the East German army.

After all the majortity of the military would not bear the responsibility to use military force.
 

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