DER SPIEGEL 3/1991, Seite 105 - 112
„Niemand kann uns überführen”
Sowjethistoriker Lew Besymenski über die Entdeckung
der Geheimprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt

In zwei geheimen Zusatzprotokollen zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 verständigten sich die beiden Diktatoren, Osteuropa untereinander aufzuteilen. 50 Jahre lang leugnete Moskau die Existenz dieser Dokumente, um seinen Landgewinn zu bewahren die drei baltischen Republiken, die Westgebiete Belorußlands und der Ukraine, Bessarabien und die Nord-Bukowina. Zum 50. Jubiläum des Landräuber-Pakts 1989 prüfte ein Untersuchungsausschuß des Volksdeputiertenkongresses unter Vorsitz des Gorbotschow-Vertrauten Alexander Jakowlew die Beweislage und kam noch dramatischen Auseinandersetzungen zu dem Schluß, die Protokolle habe es gegeben. Das Parlament annullierte darauf Pakt samt Zusätzen. Den Hintergrund beschreibt der Moskauer Historiker Lew Besymenski, 70, einst Vernehmungsoffizier des Stalingrad-Generalfeldmarschalls Friedrich Paulus. Der Autor zeithistorischer Bücher beriet als Gutachter den Untersuchungsausschuß.


Ribbentrop, Molotow und Stalin bei der Unterzeichnung des Grenz- und Freundschaftsvertrages am 28. September 1939,
Karte mit den Unterschriften Stalins und Ribbentrops

Auf dem ersten Kongreß der Volksdeputierten im Mai 1989 geriet die Moskauer Spitze in Alarmstimmung: Werden die Balten, um die Legalität der Mitgliedschaft ihrer Republiken in der Sowjetunion bestreiten zu können, die Frage des Paktes von 1939 benutzen?

Die Antwort erfolgte in einer Weise, die für Michail Gorbatschows Führung typisch war: nichts tun bis zu dem Moment, in dem man gar nichts mehr tun kann, gemäß dem russischen Sprichwort: „Solange es nicht gedonnert hat, bekreuzigt sich der Muschik nicht.”

Die ersten Tage des am 25. Mai 1989 begonnenen Kongresses bestätigten scheinbar die Hoffnungen des Politbüros, das dem Protokoll-Thema mit guten Gründen aus dem Weg ging: aus Furcht vor einem unerwünschten Vorwand für das Wachsen des baltischen Separatismus. Unter den zahllosen ungedeckten Wechseln, welche die Sowjetunion von Stalin bis Breschnew ausgestellt hatte, mußte Gorbatschow auch diese Erbschaft übernehmen: die Existenz dieser Protokolle entschieden zu negieren.

Diese Bürde, zur Zeit des Prozesses von Nürnberg 1946 aufgeladen, lastete unter der schweren Hand des Außenministers Andrej Gromyko auf der sowjetischen Politik und Wissenschaft. Obwohl den meisten Historikern klar war, daß sich ein schlichtes Ignorieren doch nicht hätte durchhalten lassen, veränderte sich die offizielle Position kaum. Wie um dies zu bestätigen, erklärte Andrej Gromyko in seinem SPIEGEL-Gespräch, daß nach den Worten Molotows keinerlei Dokumente über seine Verhandlungen mit Ribbentrop anerkannt würden außer denen, die amtlich publiziert sind (SPIEGEL 17/1989).

Als ob er seinen letzten Willen verkündete - Gromyko starb alsbald -, wiederholte der Ex-Minister und Ex-Staatschef seine Behauptung. die Dokumente seien Fälschungen.

Ich wußte schon früher, daß Gromyko gegen jegliche Erwähnung von Geheimprotokollen kategorisch Einwände erhob. In den siebziger Jahren hatte er sogar die Publikation des Serienbands der „Dokumente der Außenpolitik der UdSSR” für das Jahr 1939 verhindert, um keine Erinnerungen zu wecken.

Manche meinen, er selbst habe an die Existenz der Protokolle nicht geglaubt. Andere schreiben ihm vieldeutige Worte zu: „Nichts und niemand kann uns überführen.” Ob so oder anders, die sowjetischen Diplomaten und Historiker (auch ich war darunter) krümmten sich, um das „verfluchte Problem” zu umgehen.

Zur tiefsten Verwirrung der Sowjetwissenschaftler ließ sich Gorbatschow in die Gemeinschaft der steinharten Anhänger der „Fälscher”-Version hineinziehen. Als der Generalsekretär im Juli 1988 zu Besuch in Polen war, wiederholte er die traurig-bekannte Formel von der „Unausweichlichkeit” des Hitler-Stalin-Pakts. Mehr noch. entschlossen erklärte er in Warschau zu den Protokollen:

„Worin die sowjetische Führung erklären würde, diese Abschriften entsprächen dem Original, so wäre dies unsererseits unseriös und würde einen sehr ernsten Präzedenzfall schaffen.”
In seiner bekannten Art, die ihm für den Fall der Fälle die Chance zu einem Rückzug offenließ, fügte er sogleich hinzu, daß „die Wissenschaft das alles erforschen” werde. Doch ganz deutlich war, daß Gorbatschow zu dieser Thematik nicht die Rolle des Initiators auf sich nehmen wollte. Möglicherweise rechnete er mit Widerstand im Politbüro, wo es genug Streitigkeiten um noch drängendere Schicksalsfragen des Landes gab.

Aber im Frühling 1989 forderten zahlreiche Symposien in Moskau, Riga und Tallinn immer lauter den Verzicht auf eine solche Version. Gorbatschow und Polens Staatschef Jaruselski hatten das Zusammentreten einer Kommission sowjetischer und polnischer Historiker vereinbart, welche die „weißen Flecken” in der Geschichte der Beziehungen beider Länder aufhellen sollten. Zu diesen Lücken zählten der sowjetisch-polnische Krieg von 1920, die Vernichtung der polnischen KP durch Stalin 1938, das Jahr 1939, der Massenmord von Katyn 1940 und die Rolle der Sowjetarmee beim Warschauer Aufstand von 1944.

Am 25. Mai 1989, ausgerechnet am Eröffnungstag des ersten Volksdeputiertenkongresses, veröffentlichte diese Kommission vorab ihre Schlußfolgerung, welche das Vorhandensein der unseligen Protokolle wenn nicht direkt, so doch mit ausreichender Klarheit bestätigt.

Hier erlaube ich mir, ohne meine Rolle in der Geschichte des 20. Jahrhunderts überzubewerten, mich selbst zu den handelnden Personen zu zählen. Es ging darum, daß ich am Jahresende 1988 etwas getan hatte,. was nach den alten Regeln unzulässig war.

Den Anstoß dazu gab eine höchst inoffizielle Unterhaltung mit einem unmittelbaren Zeugen der Begegnung Michail Gorbatschows mit Helmut Kohl im Oktober 1988 in Moskau. Da mein Gesprächspartner um meine lebenslange Beschäftigung mit deutschen Fragen wußte, fragte er mich, was der Kanzler gemeint habe, als er zu Gorbatschow sagte, die Originale der Geheimprotokolle lägen in Bonn. Ich erwiderte sehr höflich, daß ich die Kanzlerworte bezweifelte.
Mir kam aber der freche Gedanke. Wenn Herr Kohl in Bonn die Originale gesehen hatte, warum sollte Mir das nicht auch gelingen? Der Gedanke wurde von meinem kompetenten Gesprächspartner gutgeheißen, und danach benutzte ich eine routinemäßige Journalistenreise nach Bonn für eine Art „Sondermission”.

Der Bonner Professor Hans-Adolf Jacobsen, mein alter Freund und Opponent, half mir liebenswürdigerweise; ihn hatte nämlich des Kanzlers Eröffnung nicht weniger überrascht als Gorbatschow. Jacobsen vermittelte einen Besuch im Politischen Archiv des AA. Und bald hielt ich aufgeregt zwar keine Originale (die selbstverständlich nicht da waren), aber jene berühmte Rolle Nummer 19 des Mikrofilms aus dem Bestand „Büro Reichsaußenminister” in den Händen, auf der die Texte der Protokolle entdeckt worden waren.

Mit einem Paket Xerokopien kehrte ich nach Moskau zurück. Selbst der von Amts wegen skeptische Chef der Historisch-Diplomatischen Verwaltung des Außenministeriums, Botschafter Felix Kowaljow, war nun bereit, mir recht zu geben: Eine Fälschung sei völlig ausgeschlossen.

Alle stimmten mir zu, keiner wollte etwas tun. Meine Absicht, über die Protokolle in meiner Zeitschrift Nowoje wremja zu berichten, fand weder Widerspruch noch Beifall. Was wird man im Baltikum sagen? Spielt die Publizierung nicht den Separatisten in die Hände? Und während alle noch überlegten, donnerte es in der Sitzung des Volkskongresses.

Am 1. Juni 1989 schlug der estnische Professor Endel Lippmaa im Namen einer Gruppe von Volksdeputierten vor, eine Kommission zur politischen Einschätzung sowohl des Pakts als auch der Geheimprotokolle einzusetzen. Die Diskussion brach aus gab es die Protokolle denn?

Igor Grjasin, ein anderer Professor aus Estland, las dem Kongreß fast den ganzen Text des geheimen Protokolls vom 23. August 1939 vor, den ein dritter baltischer Professor und Volksdeputierter, Mavriks Vulfsons, bereits in der Rigaer Lehrerzeitung veröffentlicht hatte. Was blieb Gorbatschow da übrig?

Er berichtete den Deputierten von seiner Begegnung mit Kohl, äußerte wieder seine Bedenken, zeigte sich aber mit der Berufung der Kommission einverstanden und fügte, eher beiläufig, hinzu. „Lassen Sie uns Jakowlew in die Kommission aufnehmen. Gut?” Der Kongreß war einverstanden.

Es ist kaum anzunehmen, daß Alexander Jakowlew, Politbüromitglied und ZK-Sekretär, über diesen Auftrag erfreut war. Erstens war die ungleichgewichtige Zusammensetzung der Kommission auffällig. Von ihren 26 Mitgliedern vertraten 11 das Baltikum, 6 Mann waren von der zu behandelnden Thematik sehr weit entfernt; als Fachleute konnten nur wenige gelten.

Dies nahm den betont politisierenden Charakter der ganzen Arbeit vorweg, zumal für die Delegierten aus Lettland, Litauen und Estland nur politische Argumente wichtig waren. Sie trieben die Kommission mit Blick auf das Datum des 23. August 1989, 50. „Jubiläum” des Pakts und der Protokolle, zur Eile an.

Die Kommission begriff bald, was ihr drohte: eben nicht eine objektive Analyse der historischen Tatsachen, sondern eine politische Konfrontation. Der Nestor der Sowjethistoriker, Michail Pokrowski, hatte einmal die Geschichte „eine in die Vergangenheit umgekippte Politik” genannt. Diesmal wollte man die Vergangenheit in die heutige Politik umkippen.

Schon die erste Sitzung im ZK-Gebäude am Moskauer Alten Platz brachte den Konflikt, der nicht mal durch Hinzuziehen von Juristen und Historikern (darunter geriet auch der Autor) bewältigt werden konnte. Aber eins stand fest: Keiner der Experten, wie konservativ er in der Deutung des Pakts auch war, zweifelte an der Existenz der Geheimprotokolle und der Echtheit der deutschen Kopien.

Dieser Konsens reichte nicht aus. Stundenlang wurde gestritten: Man kämpfte buchstäblich um jeden Satz, mit immer neuen Formulierungen und Umformulierungen. Jakowlew, selbst Kritiker des Pakts, erregte sich gegenüber seinen baltischen Opponenten: „Wollen Sie, daß ich vor Ihnen auf die Knie falle und bereue?”

Am Ende entstand ein wackliges Gleichgewicht. Einerseits wuchs die Bereitschaft, die verhängnisvolle Version abzulehnen. Das tat Walentin Falin in einer ZDF-Diskussion, die auch im Moskauer Fernsehen lief und die Gemüter erregte. Mitte Juni 1989, in den Tagen des Gorbatschow-Besuchs in der BRD, gab man auch mir als einem der Begleiter des Generalsekretärs die Möglichkeit, vor der Bonner Pressekonferenz die Anerkennung der Existenz der Protokolle kundzutun. Aber das alles reichte nicht aus.

Die Krise in der Kommissionsarbeit kam im August 1989. Eine radikale Gruppe mit Jurij Afanasjew, einem der Vizevorsitzenden der Kommission, forderte die Veröffentlichung eines Zwischenberichts über die Arbeit noch vor dem kritischen -23. August. Jakowlew wie Falin, sein anderer Vize in der Kommission, kannten die Stimmung in der Führung, zögerten und förderten damit die Unzufriedenheit jener, welche die Komplexität der Lage des Vorsitzenden nicht verstanden (oder nicht verstehen wollten):

Jakowlew mußte das Politbüro des ZK, damals noch das oberste Organ der politischen Macht, überzeugen. Und so kam es fast zum Zusammenbruch des ganzen Unternehmens: Dem mit Jakowlew abgestimmten Text versagte das Politbüro seine Zustimmung und entschied, vor dem 23. August 1989 dürfe nichts publiziert werden. Nach dem genannten Grundsatz: nichts zu tun, bis ...

Dem Vorsitzenden waren nun die Hände gebunden. Er bekam noch einen Schlag dazu, in den Rücken. Eine Gruppe der Kommissionsmitglieder mit Afanasjew an der Spitze übergab den Vorabtext der Weltöffentlichkeit und erhob auf einer Pressekonferenz scharfe, beleidigende Vorwürfe an die Adresse des eigenen Vorsitzenden.

Was nun? Der kluge Taktiker Jakowlew tat so, als ob nichts geschehen wäre, und rief die Kommission wieder zusammen. Nachdem er seine Gegner väterlich gerügt hatte, fand er die rettende Lösung: Er werde auf dem Volksdeputiertenkongreß einen „persönlichen Vortrag” halten. In der Kommission selbst (und eben auch außerhalb der Kommission) brauchte man demgemäß über einen solchen Vortrag nicht abzustimmen, nur der Resolutionsentwurf sollte vorbereitet und dann dem Kongreß unterbreitet werden, mit einer kurzen schriftlichen Erläuterung.

Dies wurde von allen Kommissionsmitgliedern akzeptiert, außer vom störrischen Außenminister der Ukraine, Wladimir Krawez, der hartnäckig an die Existenz der Protokolle nicht glauben mochte.

Aus den Sitzungsniederschriften der Kommission und den zahllosen Resolutionsentwürfen, die von der schamhaften Feststellung des „Zwangscharakters” des Pakts bis zu dem unverzüglichen Geständnis reichten, das Baltikum sei schon 1939 „militärisch okkupiert” worden, läßt sich die Position Jakowlews ablesen. Im Unterschied zu der herausfordernden Haltung der Mehrheit der Balten, die nur Argumente für einen Kurs gegen Moskau suchten, wog Jakowlew in aller Ruhe Tatsachen und Argumente beider Seiten gegeneinander ab. Er suchte einen Weg, den Pakt nicht als ein isoliertes Ereignis einzuschätzen, sondern sah in ihm die schärfste Bekundung des Stalinismus.
Der ehemalige Marineinfanterist Jakowlew, der bei Leningrad schwer verwundet worden war, mußte diesmal an zwei Fronten kämpfen gegen die radikalen Balten und gegen die konservative Denkträgheit der höchsten Partei- und Staatsführung, präziser: gegen jene, die eine unbedingte, erbarmungslose Entlarvung und Überwindung des Stalinismus nicht wollten.

Der Schatten Gromykos hing unsichtbar über den Beratungen im Politbüro, den Parteiideologen und den Anhängern einer trägheitsbedingten Interpretation der Sowjetgeschichte, wozu Jegor Ligatschow und Wadim Medwedew gehörten.

Als der 23. Dezember nahte, der Sitzungstag des Volkskongresses, warnte Jakowlew in den Kommissionssitzungen, die extremen Vorstellungen Afanasjews würden garantiert nicht durch den Kongreß unterstützt. Selbst sein ausgewogenes und objektives Referat vor dem Kongreß machte die Volksdeputierten zunächst verlegen, dann empörten sie sich aber nicht gegen Stalin, sondern gegen Jakowlew.

Der 23. Dezember wäre beinahe nicht zum Schicksalstag der Perestroika geworden, und zwar wegen der schlechten Akustik im Kongreßpalast des Kreml, wo die Volksdeputierten der UdSSR tagten.

Erst beugte sich Jakowlew zum Mikrofon hinunter, dann trat er ein paar Schritte zurück, um die Fragen aus dem Saal besser hören zu können. Er hatte zuvor über die Ergebnisse der Arbeit seiner Kommission berichtet, und der Kongreß hatte in einer für diesen Riesensaal ungewohnten absoluten Stille zugehört.

Jakowlews Vortrag endete mit dem Vorschlag, der Kongreß möge beschließen, die Handlungen der stalinschen Führung zu verurteilen. Als Fragen aus dem Saal kamen, wurden die Deputierten unruhig. Also haben die bisher stets geleugneten Geheimprotokolle doch existiert? Es regnete Zwischenrufe, bis einer der Deputierten, der Trust-Direktor Akram Irgaschew aus Taschkent, seine Replik mit der direkten Frage schloß:

Im Entwurf Ihrer Kommission schreiben Sie doch, daß die Originalprotokolle weder in sowjetischen noch in ausländischen Archiven gefunden wurden. Und gleichzeitig steht im Punkt sieben des Entwurfs: Der Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR verurteilt die Tatsache der Unterzeichnung des „Geheimen Protokolls”! Ist es richtig zu schreiben, der Kongreß verurteile nicht existierende Dokumente?
Darauf der Vorsitzende Anatolij Lukjanow: „Danke. Ist die Frage klar?” Jakowlew: „Klar.” Im Saal wurde es still.

Etwas verärgert erläuterte Jakowlew, der Vertrag und das Protokoll seien zweierlei. Der Vertrag sei formal richtig gewesen, das Protokoll aber „ungesetzlich von Anfang an”.

Es wurde wieder laut im Saal: Wenn ein so erfahrener Politiker wie Jakowlew der Antwort ausweicht, dann besitzt die Kommission keine ausreichenden Beweise. Wenn es aber keine Beweise gibt, warum soll man den Pakt und die Protokolle verurteilen? Alles spitzte sich auf die Ablehnung der Kommissions-Vorschläge zu.

Jakowlews Widersachern leistete der künftige Präsident Litauens (damals noch Volksdeputierte) Vytautas Landsbergis Hilfe. Er goß Öl ins Feuer, indem er ultimativ forderte, nicht nur die Schlußfolgerungen der Kommission zum Jahr 1939 zu bestätigen, sondern auch eine neue Kornmission zu schaffen, die sich mit den Ereignissen von 194011941 zu befassen habe. Der Anschluß des Baltikums an die UdSSR sollte für ungesetzlich erklärt werden.

Das fehlte noch für die „aggressiv-gehorsame” Kongreßmehrheit (wie sie treffend der oppositionelle Deputierte Jurij Afanasjew getauft hatte), um Jakowlews Vorschläge niederzustimmen. Das Ergebnis: Die Kommission bekam nur 1052 von 1880 Stimmen. Sie hätte aber für die nötige absolute Mehrheit der Stimmberechtigten 1122 Stimmen gebraucht.

Unter größter Mühe konnte der Vorsitzende den Kongreß überreden, die Kommission zu beauftragen, ihren Entwurf zu überarbeiten und die Entscheidung auf den nächsten Tag zu verschieben. Neben Lukjanow saß mit versteinertem Gesicht Michail Gorbatschow.

Vielleicht hatte die Akustik dem Referenten einen guten Dienst erwiesen, Jakowlew konnte die Replik des Deputierten aus Usbekistan nicht voll erfassen. Mag aber auch sein, daß er absichtlich so tat, um die Möglichkeit zu haben, den Kongreß mit einer dramatischen Überraschung zu konfrontieren, die er vielleicht aus Staatsräson zurückgehalten hatte: unstreitigen Beweisen des Vorhandenseins der Protokolle.

In den Abendstunden des 23. Dezember versammelte sich die Kommission in dem nun leeren Plenarsaal um ihren Vorsitzenden. Nie vorher habe ich eine derart solidarische und teilnahmsvolle Beziehung der Kommissionsmitglieder zueinander und ihrem Chef gegenüber erlebt. Was tun, wie der Katastrophe entgehen? Verschiedene Rezepte und neue Entwurfspunkte wurden angeboten.

Die beste Lösung fand wieder Jakowlew selbst. Warum er dieses Rezept nicht früher benutzt hatte, bleibt ein weiteres Geheimnis dieses nicht einfachen, zuweilen rätselhaften Politikers, der noch weiterhin, so hoffe ich, die Welt mit seinem Intellekt aufrütteln wird. Jakowlew entschied sich für den genau und gezielt geführten Schlag gegen den Stalinismus.

Am 24. Dezember 1989, als die Deutschen Weihnachten feierten, berichtete Jakowlew dem verblüfften Kongreß von den einschlägigen Dokumenten, die in den Archiven des Außenministeriums der UdSSR entdeckt wurden in jenen Archiven, in denen die Originale der Geheimprotokolle lange und vergebens gesucht worden waren. Die Dokumente waren auf den April 1946 datiert, und ihre Echtheit unterlag keinem Zweifel.
Daß sie erhalten blieben, ist einem stillen, bescheidenen Menschen zu verdanken, der unabsichtlich jene Weltgeschichte veränderte, welche angeblich nur von größten Männern gemacht wird: Wassilij lwanowitsch Panin.

Vor der Revolution Banklehrling bei der Privatbank Rjabuschinski, Mitglied der bolschewistischen Partei seit 1918, wurde Panin 1938 Vizechef des Sekretariats des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR, also des Ministerpräsidenten Wjatscheslaw Molotow. Sein Aufgabenbereich betraf die Führung aller Protokoll- und Kanzleiangelegenheiten, er hatte mit höchst geheimen Dokumenten zu tun.

Er wußte viel und hätte möglicherweise vieles erzählen können, wenn er die Gegenwart erlebt hätte. Im August 1941 aber, als der Krieg da war, meldete er sich freiwillig an die Front' seine Spur verlor sich. Seiner professionellen Genauigkeit sind wir beim Entwirren des verwickelten Weges der Geheimprotokolle verpflichtet. .

Sein Chef Molotow war nicht nur ein Mann mit zwei Gesichtern, sondern auch mit zwei Kompetenzen. Er blieb Premierminister, als er Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten wurde. Als Stalin am 6. Mai 1941 das Amt des Premiers selbst übernahm, blieb Molotow sein Stellvertreter.

So kam es, daß Molotow zwei Arbeitszimmer und zwei Kanzleien hatte. Das erste Büro blieb im Kreml, im Gebäude neben dem Spasski-Turm, direkt hinter dein Lenin-Mausoleum. Das zweite war im Außenministerium, das lange Zeit am Worowskiplatz residierte. Dieser Dualismus bestand auch 1946. Die Kremlkanzlei leiteten damals Iwan Lapschew und sein Vize Dimitrij Smirnow, die AA-Kanzlei Boris Podzerob, später Botschafter in Wien.

Dieser Geschäftsverteilungsplan soll uns helfen, die Ereignisse im April 1946 zu begreifen. Damals trafen sich die Vertreter beider Sekretariate, wahrscheinlich am Worowskiplatz. Hier wurden auf Anweisung Molotows einige wichtige Dokumente, die der Minister zur Hand haben wollte, dem Sonderarchiv des UdSSR-Außenministeriums entnommen.

Ein Dokument von drei Seiten Umfang erblickte das Licht der Welt und verschwand unverzüglich wieder aus der Welt. Seine erste, die allerwichtigste, Seite verkündete:

Wir, die Unterzeichnenden, Vize-Chef des Sekretariats des Genossen Molotow W. M., Genosse Smirnow D.W. und der Erste Gehilfe des Ministers für Auswärtiges der UdSSR Genosse Podzerob B.F., von denen der Erstgenannte übergab, der zweite an sich nahm folgende Dokumente aus dem Sonderarchiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR:

1. Dokumente zu Deutschland

1. Das Original des Geheimen Zusatzprotokolls vom 23. August 1939 (in russisch und deutsch). Plus drei Exemplare der Kopie dieses Protokolls.
2. Das Original der Erläuterung zum Geheimen Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 (in russisch und deutsch). Plus zwei Exemplare der Kopie der Erläuterung.
3. Das Original des Vertraulichen Protokolls vom 28. September 1939 (in russisch und deutsch). Dazu zwei Exemplare der Kopie dieses Protokolls.
4. Das Original des Geheimen Zusatzprotokolls vom 28. September 1939 (über die polnische Agitation') (in russisch und deutsch). Plus zwei Exemplare der Kopie dieses Protokolls ...
 

Folgten vier weitere Protokolle, darunter „über Litauen” und die „Beschreibung des Verlaufs der Staatsgrenze der UdSSR und der Staats- und Interessengrenze Deutschlands (zwei Bücher in russisch und deutsch)”.

Auf der dritten Seite standen die Unterschriften:

Übergeben: (D. Smirnow) Übernommen: (B. Podzerob).
Das Datum war nicht ausgefüllt:
„       ”. April
Im erhaltenen Dokument (Kopie) stehen zwischen den Gänsefüßchen keine Zahlen, was uns der Möglichkeit beraubt, den Augenblick der Übergabe genau zu datieren. Eine makabre Parallele: Bei den berühmten Ribbentrop-Dokumenten habe ich ein entsprechendes deutsches Dokument vom Juni 1940 gesehen, das lautete: Das sowjetische Kanzleidokument reichte nun hin, den langjährigen Streit um die Existenz der Geheimprotokolle und ihrer Originaltexte zu beenden für immer. Da wurde also bestätigt:
 
  • Die Protokolle gab es.
  • Es waren dieselben wie in den deutschen Kopien.
  • Die Originale befanden sich mindestens bis zum April 1946 in einem Sowjetarchiv.
  • Molotow hatte bestimmte Gründe, die Originale im Frühjahr 1946 dem Archiv zu entnehmen und in seine persönliche Verfügung zu bringen.
     


     
     

    Im zweiten Punkt des Smirnow/Podzerob-Papiers ist eine „Erläuterung” zum Geheimprotokoll erwähnt. Was war das?

    Hier erscheint unsichtbar Wassilij lwanowitsch Panin. Als Profi hatte er 1939 nicht nur das Original aufbewahrt, sondern auch Kopien angefertigt, die er der Akte beilegte. Deshalb hat man bei der Übergabe die Kopien „abgetrennt” und der im Sonderarchiv geführten Akte beigelegt. Und dies bietet uns heute, 50 Jahre später, die Möglichkeit, die Protokolle zu lesen aber nun nicht mehr in der „umstrittenen” deutschen Kopie, sondern in der sowjetischen.

    Dank Panin konnten wir also eine ganz einfache Operation durchführen: die Panin-Kopien und die Ablichtungen des Ribbentrop-Films aus Bonn nebeneinanderlegen. Das Ergebnis: absolute Identität.

    So klärte sich auch das Geheimnis der „Erläuterung”, zu der ich übrigens in den deutschen Akten kein Parallelstück gesehen habe. Es war ein Dokument vom 28. August 1939, das die Grenze der Interessensphären weiter präzisierte. Dies wurde notwendig, nachdem Molotow am Abend des 25. August 1939, nach Ribbentrops Abflug, den deutschen Botschafter Schulenburg zu sich gerufen und ihm gesagt hatte, „in der großen Eile” sei die Erwähnung des Flusses Pizza (im Nordteil der Abgrenzungslinie) vergessen worden.

    Der Botschafter fragte in Berlin um die Erlaubnis für ein neues Dokument an. Er bekam sie am 27. August, am nächsten Tag wurde das Dokument aufgesetzt und von Molotow und Schulenburg unterzeichnet.

    Diese Details schenkte sich Jakowlew, als er am 24. Dezember 1989 dem wie vor den Kopf geschlagenen Kongreß vom Inhalt der Transaktion berichtete. Er forderte den Kongreß zur Abfassung eines Anklage- und Urteilsspruchs auf und schloß seine kurze Rede mit Worten, die würdig. sind, in die Geschichte unserer Zeit einzugehen:

    Die Relativitätstheorie, Genossen, ist eine große Entdeckung beim Erkennen des Alls. Relativität darf es aber in der Moralsphäre nicht geben. Wir sind verpflichtet, auf den festen, gesunden Boden der unverbrüchlichen Moralkriterien zurückzukehren. Es wird Zeit zu begreifen: Die Gesetzlosigkeit ist nicht nur durch ihre direkte Wirkung schrecklich, sondern auch dadurch, daß sie das Bewußtsein verkrüppelt und Situationen schafft, in denen Amoralität und Opportunismus zur Norm werden. Jegliche Entscheidung, Genossen Deputierte, wird gleichzeitig nicht nur politisch, sondern auch moralischer Art sein.
    Jakowlews Antrag zur Annullierung des Pakts samt Zusatzprotokollen wurde in der Namensabstimmung mit 1432 gegen 252 Stimmen angenommen, zum Schrecken und Zorn der Stalinisten. Es gab auch noch stürmischen Applaus. Geschehen war, was Jakowlew selbst in seinem Referat als die Liquidation „einer der gefährlichsten Zeitzünderminen aus dem uns vererbten Minenfeld” beschrieben hatte. Jakowlews Vortrag half uns nicht nur moralisch. Er eröffnete uns die Möglichkeit, weitere Eigentümlichkeiten der sowjetischen Handlungsweise aufzuklären. Wie bekannt, war von den Protokollen zum ersten Mal die Rede,
    als der Verteidiger von Rudolf Heß, Dr. Alfred Seidl, am 25. März 1946 in Nürnberg versuchte, das Affidavit des ehemaligen Leiters der Rechtsabteilung des deutschen AA, Dr. Friedrich Gaus, über den sowjetisch-deutschen Pakt von 1939 und später auch noch die Geheimprotokolle selbst dem Gericht bekanntzumachen. Es entspannen sich Wortgefechte, in denen es der Sowjetankläger Roman Rudenko schaffte, sowohl diese Zeugenaussage als auch das Protokoll selbst zurückzuweisen.

    Jetzt hat sich herausgestellt, daß für den Kreml die Seidl-Aktion nicht unerwartet kam, wovon die Unterlagen der Nürnberger Delegation der UdSSR zeugen. Sie liegen in der Moskauer Bolschaja-Pirogowskaja-Straße, im „Zentralen Staatsarchiv der Oktoberrevolution und der obersten Staatsbehörden”, wo einige Geheimakten jüngst vom Geheimstempel befreit wurden.

    Gemäß der Archivdokumentation stellte sich den Anklägern schon bei der Prozeßvorbereitung die heikle Frage: Was geschieht, wenn die Angeklagten die für alle vier Alliierten unerwünschten Fragen ins Spiel bringen?

    Darüber dachte man schon ein halbes Jahr nach Kriegsende nach. Auf Initiative der USA und Englands, von der Sowjetunion und Frankreich unterstützt, wurde am 9. November 1945 beschlossen, daß „politische Ausfälle” an die Adresse der Sieger nicht zugelassen werden dürften. Zu diesem Zweck sollte ein Verzeichnis dieser „unerwünschten” Themen angefertigt werden.

    Ein entsprechender Rapport wurde am 19. November 1945 von Nürnberg nach Moskau abgeschickt; er weckte in Moskau großes Interesse. Auf Stalins Anweisung bildete man eine Regierungskommission zur Organisation und Durchführung des Nürnberger Prozesses. Zum Leiter wurde Molotows Erster Stellvertreter bestimmt, Andrej Wyschinski, der frühere Staatsanwalt Stalins.

    Er fuhr Ende November nach Nürnberg, ausgestattet mit dem Beschluß:

    1. Das vom Genossen Wyschinski eingereichte Verzeichnis der Fragen, die zur Gerichtsverhandlung nicht zuzulassen sind, ist zu bestätigen (Verzeichnis anbei).
    2. Genosse Rudenko ist zu verpflichten, sich mit anderen Anklägern so abzusprechen, daß eine Reihe von Fragen nicht berührt worden, um die UdSSR, die USA, England, Frankreich und andere vereinigte Nationen nicht zum Gegenstand der Kritik seitens der Angeklagten zu machen.
    Um ganz sicherzugehen, wurde noch mehr beschlossen:
    Die Genossen Rudenko und Nikittschenko sind verpflichtet, zu jedem Dokument eine Schlußfolgerung über seine Zulässigkeit oder Unzulässigkeit vom Standpunkt der Interessen der UdSSR abzugeben. Wenn es notwendig sein würde, ist Übergabe und Verlesen der unerwünschten Dokumente vor Gericht nicht zuzulassen.
    Das Wyschinski-Verzeichnis bestand aus neun Punkten
    1. Das Verhältnis der UdSSR zum Versailler Vortrag.
    2. Der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt von 1 939 und alle Fragen, die irgendeine Beziehung dazu haben.
    3. Molotows Besuch in Berlin, Ribbentrops Besuche in Moskau.
    4. Fragen, die mit dem gesellschaftspolitischen System der UdSSR zusammenhängen.
    5. Die baltischen Sowjetrepubliken.
    6. Die sowjetisch-deutsche Vereinbarung über den Austausch der deutschen Bevölkerung Lettlands, Litauens und Estlands mit Deutschland.
    7. Die Außenpolitik der Sowjetunion und, en detail die Themen der Meerengen und angeblicher territorialer Ansprüche der UdSSR.
    8. Die Balkanfrage.
    9. Sowjetisch-polnische Beziehungen (die Probleme Westukraine und Westbelorußland).
    Dem Beschluß entsprechend setzte sich der sowjetische Hauptankläger General Rudenko mit den Vertretern Englands (Maxwell-Fyfe), der USA (Jackson) und Frankreichs (Dubost) in Verbindung. Sie bestätigten das Verzeichnis, das noch „geordnet” und präzisiert wurde, wobei über die sowjetischen Begehren Molotow selbst entschied.

    Dann schnitt der Verteidiger Seidl plötzlich das heikelste Thema an, und das hatte einen Hintergrund. Er hatte von alliierter Seite verdeckt einen Hinweis bekommen. (Laut Seidl hat ihm ein Unbekannter im Vorraum des Nürnberger Gerichtssaals Anfang April 1946 einen Umschlag mit Abschriften der Protokolle übergeben. Seidl begab sich zu Rudenkos Büro und zeigte Sowjetgeneral Nikolai Sorja die Papiere. Sorja erklärte, für ein Gespräch gebe es „keinen Gegenstand”. Kurz darauf „verunglückte” Sorja tödlich, angeblich beim Reinigen seiner Dienstpistole. Wahrscheinlich wurde er, so neueste Recherchen, hingerichtet.) Wieso nicht offen?

    Die Vertreter der USA und Englands, folgerichtig auch ihre Regierungen, wußten nun seit November 1945, daß Moskau die Erörterung des Pakts von 1939 und „aller Fragen, die irgendeine Beziehung dazu haben”, nicht wünschte. Dieses Wissen half im November 1945, zur Zeit des Honigmonds der Nachkriegsmonate, der Sowjetunion. Als aber nach der Fulton-Rede Churchills vom 5. März 1946 die ersten Gefechte des Kalten Krieges begannen, bot sich die Versuchung, der Sowjetunion Unannehmlichkeiten zu schaffen, indem man an die Protokolle erinnerte.

    Von ihrer Existenz wußte man im Westen seit 1939. Die Details der Unterzeichnung des Pakts und seines Inhalts erfuhr die amerikanische Diplomatie schon am nächsten Tag durch Hans Herwarth von Bittenfeld, der damals als Sekretär und Vertrauensperson Schulenburgs fungierte und sich bis heute gern allen (auch mir) mitteilte

    Gewiß, von 1939 bis Nürnberg war einige Zeit vergangen, Menschen, die auf der diplomatischen Bühne agierten, hatten gewechselt. Wenn es aber um die Protokolle ging, konnte sich mancher erinnern, daß schon im Herbst 1945 den USA und England Mikrofilme zur Verfügung standen. Ribbentrops Mitarbeiter Carl von Loesch hatte sie übergeben, im britischen Luftfahrtministerium wurden sie abgerichtet.

    Wie aus den Akten des „Public record office” zu ersehen ist, ging ein Sonderbericht dazu im Dezember 1945 an den Premierminister Clement Attlee. Die Belege einer „Kriminalität” der UdSSR befanden sich also in den Händen der Westalliierten, durch Dr. Seidl wurde die Ahndung in Gang gesetzt.

    Die sowjetischen Anklagevertreter in Nürnberg konnten das Schlimmste verhindern, zugleich händigte Smirnow in Moskau Podzerob die Originale aus, welche die Wahrheit bargen. Wo aber sind sie geblieben, die Urschriften jener Kopien, die Panin 1939 beglaubigt hatte hat Molotow sie 1946 vernichtet, hat er sie seinem Archiv einverleibt?

    1948 ließen Stalin und Molotow eine Broschüre unter dem Titel „Historische Auskunft. Fälscher der Geschichte” zusammenstellen, die den Gerüchten um die Pakt-Protokolle gegensteuern sollte. Ihre Autoren, die Professoren Wladimir Chwostow und Boris Stejn, bekamen die Originale der Protokolle zu sehen und haben ihren nächsten Mitarbeitern darüber berichtet. Dann verliert sich die Spur.

    Die Suche hat bis heute keine Ergebnisse zutage gefördert, zumal die Recherchen wohl nicht mit ausreichender Beharrlichkeit geführt wurden. Molotow vor seinem Tode am 8. November 1986 zu befragen, konnte man sich nicht entschließen, dasselbe trifft auch auf Podzerob zu, der 1983 starb.

    Wanderten die Originale von Molotow womöglich in die Safes Stalins? Hier ist alles noch mit der Finsternis des Staatsgeheimnisses zugedeckt. Nicht weniger nebelhaft ist das Schicksal der Originale, die in Berlin verblieben waren. Es heißt, sie seien beim Bombardement der Wihelmstraße verbrannt. Aber wann? 1943, 1944? Oder blieben sie erhalten und wurden zusammen mit anderen Archiven aus Berlin irgendwohin, nach Krummhübel in Schlesien oder nach Thüringen verbracht, mithin in später von der Roten Armee eroberte Gebiete?

    Eine höchst abenteuerliche Geschichte erzählte dazu ein ehemaliger Mitarbeiter der Behörde von Lawrentij Berija, der 1945 etwas mit der Fahndung nach deutschen Dokumenten zu tun hatte. Ihm ist bekannt, daß den Sondergruppen des Smersch, die im Frühjahr 1945 nach wichtigen Staatspapieren forschten, befohlen wurde, um jeden Preis die in Deutschland aufbewahrten Originale der Geheimprotokolle zu finden. Sie wurden gefunden, behauptet die Quelle, und nach Moskau gesandt.

    Diese sensationelle Mitteilung hilft, wenn sie wahr ist, eine Frage zu beantworten: Warum konnte die sowjetische Anklagebehörde 1946 in Nürnberg so kühn die Fälschungsversion vertreten weil sie keine Angst vor einer Vorlage der Originale zu haben brauchte?

    Eine mögliche Antwort: weil Moskau beide Original-Pendants der verhängnisvollen Protokolle besaß, die deutsche und die russische Ausfertigung. Hatte Andrej Gromyko deshalb davon gesprochen, daß „niemand uns überführen kann”?

    Meine Recherchen führten mich zu einer ganz anderen Version. Ein sehr gut informierter Mann aus den „oberen Etagen”, der Molotows Mentalität kannte, erklärte mit absoluter Überzeugung: „Nein, Molotow konnte die Originale nicht vernichten. Seine Position war damals stark, warum sollte er die Dokumente vernichten? Und wenn vernichten, warum dann Kopien anfertigen? Man muß noch weiter suchen.”

    Also stehen uns noch Überraschungen bevor. Teilte Jakowlew diesen Verdacht, als er in seiner Rede die Geheimprotokolle eine „Zeitzündermine” nannte? Hat er aber damit gerechnet, auch selbst dabei in die Luft gesprengt zu werden?

    Ende 1989, als der Kongreß sein Referat anhörte, war die Autorität des Politbüromitglieds Jakowlew unangefochten. Selbst diejenigen, die sich auf dem Kongreß gegen die Schlußfolgerungen der Kommission auflehnten, bestritten die Qualitäten des Referenten keine Minute.

    Bald aber änderte sich die Lage, wie sich eben die Gesamtsituation innerhalb der Sowjetgesellschaft veränderte. Der radikale Reformkurs stieß auf Widerstand zunächst im geheimen, dann ganz offen und regelgerecht, und eine Regel des politischen Kampfes lautet: Ein Angriff muß ein Ziel haben. Dieses Ziel wurde Jakowlew.

    Das Signal dazu war das antisemitische Pogrom, das die „Pamjat”-Gesellschaft im Zentralhaus der Literaten veranstaltete. Dort wurde Jakowlews Name als eines „Beschützers der Zionisten” und schon beinahe als eines CIA-Agenten offen genannt. Die Behörden griffen nicht ein, die Untersuchung zog sich über Monate hin.

    Und dann fing es an: Zuerst in den konservativen Zeitschriften vom Typ Molodaja gwardija und Nasch sowremennik, dann aber auch in den Diskussionen innerhalb der Partei an Jakowlews Adresse gerichtet, tauchten die ungeheuerlichsten Vorwürfe auf.

    Man erklärte ihn sogar zu einem heimlichen Juden, man schickte eine Sonderabordnung in jenen Marktflecken im Gebiet Jaroslawl, aus dem der Ur-Russe Alexander Nikolajewitsch Jakowlew stammt. Die Expedition war vergebens, die Angriffe aber steigerten sich.

    Man machte aus ihm den Sündenbock für alle negativen Erscheinungen in Ideologie und Politik und sonstwo. Sogar der baltische Separatismus wurde ihm angelastet. Im Juli 1990 verabschiedete sich die Führung der Kommunistischen Partei von dem Menschen, der für die Partei und die Sowjetunion nicht weniger getan hat als Michail Gorbatschow. Die Konservativen konnten ihm nicht verzeihen, die vielen Mythen unserer Gesellschaft zerstört zu haben, darunter die Legenden vom angeblich errichteten Sozialismus und vom bösen Westen.

    Und in einer langen Liste „antisozialistischer Handlungen” wurde Jakowlew auch die Anerkennung der Protokolle als Schuld angelastet. Die Leningraderin Nina Andrejewa, unermüdliche Verteidigerin Stalins und des Stalinismus, nannte im Wojenno-istoritscheski Journal Jakowlews Kongreßrede einen „Schritt zum Neu-Zuschneiden der Geschichte nach den Rezepten der westlichen Historiographie” und einen „Niedergang der Klassenmoral”.

    Sie hatte recht. Das Objekt ihres Hasses hatte gesagt, daß dieses Geheimprotokoll „das innere Wesen des Stalinismus genau widerspiegelt” und die Verurteilung dieses Dokuments nötig sei, „um der Wiederherstellung der Ehre des Sozialismus willen, die durch den Stalinismus zertreten wurde”.

    Das können seine politischen Gegner Alexander Jakowlew nicht verzeihen. Die Geschichte, befand er selbst, ist „Ankläger und Richter”. Ihr Urteil hat er mitverfaßt, er braucht es nicht zu scheuen.



    Mehr Informationen über den Hitler-Stalin-Pakt http://www.dhm.de/sammlungen/zendok/hitler-stalin-pakt/index.html
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